Wider die passive Neutralität aus Bequemlichkeit

Die fünfte Bettagskonferenz der EVP Schweiz hat heute Samstag im Aarauer Grossratsgebäude zum Thema „Neutral sein.“ stattgefunden. Sie bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Nichteinmischung, Anpassertum und Parteinahme.

Der eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ist eine historisch gewachsene Institution. Schon im 17. Jahrhundert halfen Bettage bahnbrechend mit, weltanschauliche und politische Gräben zu überbrücken. An diese Tradition will die EVP Schweiz mit ihrer jeweils am Samstag vor dem eidgenössischen Bettag stattfindenden Bettagskonferenz anknüpfen. Die diesjährige Konferenz von heute Samstag mit rund 100 Teilnehmenden im Aarauer Grossratsgebäude hatte das Thema „Neutral sein. Im Spannungsfeld zwischen Nichteinmischung, Anpassertum und Parteinahme.“ zum Inhalt.

 

Pfarrer Urs Schmid: Plädoyer für die Erhaltung der weltanschaulichen Neutralität.

Zu Beginn nahm Pfarrer Urs Schmid vom Christlichen Zentrum Buchegg in Zürich eine Bewertung der Neutralität aus theologischer Sicht vor. Als Vereinigung evangelischer Christen habe die EVP keine neutrale Position gegenüber dem Evangelium. Auch in politischen Sachfragen gelte es nicht lau, sondern heiss oder kalt zu sein. Schmid rief zu einer positiven Einstellung gegenüber der heute möglichen weltanschaulichen Neutralität auf. Zum einen seien jene Jahrhunderte, in denen die weltanschauliche Neutralität nicht gegeben war, dunkle Jahrhunderte gewesen, wie beispielsweise die Geschichte der Täufer zeige. Zum anderen sei weltanschauliche Neutralität ein guter Boden für Christen, um das Evangelium zu verbreiten und Menschen für Jesus zu gewinnen. Es gelte deshalb die weltanschauliche Neutralität hochzuhalten und zu verteidigen.

 

Henryk M. Broder: Wir tolerieren uns zu Tode.

Anschliessend sprach Henryk M. Broder, Autor und Publizist, zum Themenkreis Neutralität, Äquidistanz und Appeasement. Neutralität bedeute vielfach auch nur Gleichgültigkeit. Die Position der Äquidistanz postuliere, dass alle Formen der Diskriminierung gleich seien, was Broder entschieden bestritt: es sei eben nicht das Gleiche, wenn eine Frau in Afghanistan den Tod riskiere, wenn sie ohne Burka auf die Strasse gehe, als wenn eine Frau in Deutschland 10 Prozent weniger Lohn erhalte als ihr Kollege für die gleiche Arbeit. Gleichermassen verachte er die Position des Appeasement, welche im vorauseilenden Gehorsam falsche Rücksichten auf die Empfindlichkeit anderer nehme, bevor sie sich überhaupt empfindlich gezeigt hätten. Zur Toleranz als der kleinen Schwester der Neutralität postulierte Border folgende These: „Wir tolerieren uns zu Tode.“ Seit Lessing gelte Toleranz als erstrebenswerte Tugend und Wert an sich. Doch Toleranz sei auf lange Sicht selbstmörderisch. Ein Burkaverbot beispielsweise sei eine Schutzmassnahme einer Gesellschaft, die sich nicht aufgeben wolle, weil es eben entscheidend sei, dass man sich gegenseitig sehen könne. Eine Gesellschaft müsse der Toleranz Grenzen setzen, dort nämlich, wo Intoleranz die Freiheit gefährde. Broder unterstrich und illustrierte seine These mit einer Vielzahl von Beispielen. Werfe man beispielsweise der Berliner Polizei vor, sie provoziere durch ihre Präsenz die Demonstranten am 1. Mai, sei eine Grenze der Toleranz überschritten. Anderes Beispiel: In den christlich grundierten Gesellschaften Westeuropas sei die Diskussion, ob christliche Symbole in der Öffentlichkeit zulässig seien oder aus Gründen der Neutralität verboten werden müssten, einfach nur albern. Die Frage aller Fragen, nämlich was eine Demokratie zulassen könne und was sie verbieten müsse, sei in einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich alle Grenzen auflösen, je länger je weniger zu beantworten. Umso wichtiger sei es, Position zu beziehen: denn entstehe politisch ein Vakuum, werde es sofort von jemandem besetzt. Zum Abschluss beantwortete Broder die Frage, ob Toleranz gegenüber Intoleranten nicht besser sei als Intoleranz im Dienst der Freiheit, mit einem entschiedenen Nein und dem Ausruf: „Das wäre Selbstaufgabe. Seien wir klug, seien wir intolerant.“

 

Elisabeth Bauhofer: Erkenne Dich selbst, auf dass Du neutral richten kannst.

„Kann ein Richter oder eine Richterin neutral sein?“ fragte sich Elisabeth Bauhofer, Oberrichterin und Präsidentin des Verwaltungsgerichtes im Kanton Aargau. Eines sei sicher: Ein Richter habe unparteiisch zu sein. Aber könne er oder sie neutral sein? Liege kein Ausstandsgrund vor, heisse das noch nicht, dass die richterliche Unabhängigkeit auch sichergestellt sei. Während schriftliche Verfahren meist unbedenklich ablaufen würden, bestehe bei Verfahren mit Befragungen die Gefahr, dass die richterliche Unabhängigkeit von innen gefährdet werde. Jeder Richter und jede Richterin bringe eine eigene Geschichte und eigene Prägungen mit, die einen Einfluss auf den Umgang mit den Parteien haben könne. Könne ein Richter beispielsweise innerlich unabhängig sein, wenn er geschieden ist und seine Kinder nicht sehen darf, wenn er einen ähnlich gelagerten Prozess zu beurteilen hat? Ein Richter oder eine Richterin müsse sich seiner Schwächen, Kränkungen und Erfahrungen bewusst sein, um sie nicht auf seine Mitmenschen zu übertragen, sei es im persönlichen Umgang oder in einer Gerichtsverhandlung. Die Selbstreflexion sei entscheidend und man müsse in der Lage sein, den Balken im eigenen Auge erkennen zu können, bevor man sich um den Splitter im Auge des Mitmenschen kümmere. Die Unabhängigkeit des Richters steige in dem Masse, wie er sich seiner Abhängigkeit bewusst ist, zitierte Bauhofer Arthur Kaufmann. Richter sind in der persönlichen Begegnung mit Angeklagten, Zeugen und Anwälten nicht von Amtes wegen neutral. Aber sie haben die Chance dazu, wie alle Menschen, durch ehrliche Selbstreflexion, 

 

Jon M. Ebersole: Neutralität darf kein Selbstzweck sein, sondern muss den Ärmsten dienen.

Nach der Kaffeepause erläuterte Jon M. Ebersole, Gründer und Geschäftsführer der Dialogue Services GmbH und vergleichender Verfassungswissenschafter, seine Vorstellungen einer christlichen Neutralitätspolitik als Dienst an den Ärmsten dieser Welt. Als Mitglied der mennonitischen Glaubensgemeinschaft habe er hautnah miterlebt, wie politisch neutrale Entwicklungshilfeorganisationen humanitäres Leid wirkungsvoll lindern können. International werde die Schweiz neutral wahrgenommen: er habe in Afrika erlebt, wie ein IKRK-Mitarbeiter oder ein Schweizer Diplomat ungleich neutraler gelte, als beispielsweise ein UNO-Mitarbeiter. Dieses Erbe gelte es zu schützen und zu wahren und für die Menschheit gewinnbringend zu nutzen. Die Schweiz trage mehr als alle anderen Nationen den Ruf, für einen neutralen Rahmen zu sorgen, in dem gegenseitige Verständigung möglich sei. Die Schweiz habe mit ihrer Neutralität einen einmaligen Dienst zu offerieren, den kein anderes Land in diesem Ausmass geben könne. Doch um ihre Neutralität aufrechterhalten zu können, müsse die Schweiz mehr Charakterstärke zeigen als bisher. Sie müsse ihre Neutralität in Hingabe an die Schwächsten dieser Welt leben und sie damit unterstützen. Es gebe eine direkte Verbindung zwischen der schweizerischen Neutralität und dem Schutz von unschuldigen und schwachen Menschen in Kriegs- und Krisengebieten.

 

Walter Donzé: Neutralität nicht als feiger Rückzug, sondern als aktiver Beitrag für den Frieden.

Abschliessend zog EVP-Nationalrat Walter Donzé Schlussfolgerungen für eine Neutralitätspolitik auf christlicher Grundlage. Die Neutralität müsse aus sicherheitspolitischer Sicht immer wieder neu definiert werden in Abhängigkeit der Landesinteressen. In der politischen Arbeit stelle sich immer wieder die Gewissensfrage: eine politische Lösung müsse erstens gerecht sein und zweitens den Betroffenen Liebe entgegenbringen. Als Pressechef der EVP Kanton Bern sei er zum ersten Mal gezwungen worden, Farbe zu bekennen und Positionen zu beziehen. Diese Erfahrung habe ihm gut getan. Er habe dabei auch gelernt, dass in unbequeme Situationen geraten könne, wer sich nicht neutral verhalte und den Kopf nicht in den Sand stecke. In diesem Sinne dürfe Neutralität kein feiger Rückzug sein, sondern müsse ein aktiver Beitrag für den Frieden sein.

 

Aarau, den 19. September 2009/nh