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Gefahr eines Volksentscheids gegen die Menschenrechte
Die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» (SBI) will der Verfassung als oberster Rechtsquelle Vorrang vor fremdem Völkerrecht verschaffen. Dieser Vorrang besteht aber bereits. Es braucht diese Initiative daher gar nicht, so EVP-Präsidentin Marianne Streiff im Interview. Im Gegenteil: Sie ist schädlich für unser Land und vor allem auch für die Menschenrechte. Auch die Delegierten der EVP sagten mit 52 zu 8 Stimmen klar Nein dazu.
Marianne, die sogenannte «Selbstbestimmungsinitiative» will unsere Verfassung gegenüber «fremdem» Völkerrecht als oberste Rechtsquelle festschreiben. Dagegen ist doch eigentlich nichts einzuwenden?
Nein. Nur gilt dies heute bereits: Die Behörden dürfen schon heute keine internationalen Verträge abschliessen, die gegen unsere Verfassung verstossen. Die Verfassung steht bereits ganz oben. Die Ini tiative will aber einiges mehr: Sie will einen starren Mechanismus festschreiben, um bestimmte Verträge kündigen zu können. Und sie verlangt, dass die Schweiz gewisse Verträge nicht mehr einhält
Aber trotzdem gibt es immer wieder Widersprüche zwischen Verfassungs- und Völkerrecht?
Landesrecht und Völkerrecht stehen tatsächlich immer mal wieder im Widerspruch. Diese gelegentlichen Konflikte müssen wir lösen, aber nicht, indem wir starre Regeln in die Verfassung schreiben, die für komplexe Sachverhalte eine einfache Lösung vorgaukeln. Die Praxis, die das Bundesgericht hier über Jahre hinaus entwickelt hat, funktioniert und ist anerkannt. Kommt noch dazu, dass die Initiative in zentralen Punkten unklar formuliert ist und komplexe Auslegungsprobleme aufwirft, die dann auch wieder von Gerichten gelöst werden müssten.
«Die Verfassung hat bereits heute Vorrang. Dafür braucht es die Initiative nicht.»
Die Initianten argumentieren, dass die geforderte Möglichkeit zur Kündigung der Verträge der Schweiz wieder mehr Freiheit verschaffen würde.
Dazu braucht es die Initiative nicht. Parlament und Bevölkerung können schon heute verlangen, dass die Schweiz Staatsverträge kündigt – allerdings eben in einem bewusst beabsichtigten und demokratischen Prozess und nicht durch einen starren, blinden Mechanismus. Mit ihrer «Kündigungsinitiative» gegen das Personenfreizügigkeitsabkommen zeigt die SVP doch gerade, dass dies in unserem System heute schon funktioniert: Wer einen Vertrag nicht mehr will, kann dessen Kündigung zur Diskussion stellen.
Ist denn das Unbehagen, dass unsere Souveränität und unsere direkte Demokratie schleichend ausgehöhlt wer den, nicht berechtigt?
Direktdemokratischer als heute in der Schweiz geht ein Vertragsabschluss doch nun wirklich nicht. Ist es ein Gesetz, können wir das fakultative Referendum ergreifen. Betrifft es die Verfassung, muss es in jedem Fall vors Volk.
Aber die Initiative will doch gerade diese Demokratie stärken?
Was ist daran bitte demokratisch, wenn ein blinder Kündigungsmechanismus einen internationalen Vertrag einfach auflöst, ohne dass wir vorher demokratisch über die Vor- und Nachteile für die Schweiz diskutieren können? Das ist doch im Kern zutiefst undemokratisch!
Dann wären da immer noch die fremden Richter, vor deren Verdikt uns die Initiative schützen will.
Diese andauernde Polemik ist sachlich falsch. Das Völkerrecht ist kein fremdes Recht. Es wird uns nicht einfach «übergestülpt». Es ist zum grössten Teil Vertragsrecht, wurde also gemeinsam ausgehandelt. Es gibt hier folglich auch keine sogenannten «fremden Richter». Die NZZ hat es neulich auf den Punkt gebracht: «Das Völkerrecht sichert in erster Linie die Rechtsstaatlichkeit, den Frieden und die Stabilität in der Welt.»
Wenn die Initiative gar nichts nutzt, schadet sie doch aber auch nicht wirklich?
Leider schon. Sie würde unser Land empfindlich schwächen. Unsere internationalen Verpflichtungen würden andauernd in Frage gestellt. Denn die Initiative verlangt, dass die Schweiz einen Vertrag neu aushandeln oder gar kündigen muss, sobald er zu einer Bestimmung unserer Verfassung in Widerspruch steht. Sie will zudem, dass wir uns teilweise nicht mehr an geltende Verträge halten sollen. Wir würden uns einer Regelung unterwerfen, die nicht mehr das Prinzip der Vertragstreue in den Vordergrund stellt, sondern umgekehrt Vertragsbruch oder potenziellen Rückzug vom Vertrag bewusst in Kauf nimmt – und das auch noch in die Verfassung schreibt. Da stünde dann faktisch: «Liebe Vertragspartner weltweit, wir handeln gerne Verträge mit euch aus. Aber unter Umständen halten wir uns dann halt nicht dran!» Damit verliert die Schweiz international ihr Ansehen und jegliche Glaubwürdigkeit als verlässlicher und stabiler Partner – und manövriert sich selbst ins Abseits. Wollen wir allen Ernstes gerade bei höchst komplexen Staatsverträgen und internationalen Abkommen derart auf Konfrontationskurs mit unseren Vertragspartnern gehen und massive Schäden in Kauf nehmen?
Eine Sorge liegt dir besonders am Herzen: Die Initiative greift die Menschenrechte an. Die SVP bestreitet das.
Sie greift sie ja auch nicht offen und direkt an. Das wäre viel zu unpopulär. Die Initiative verlangt, dass ein völkerrechtlicher Vertrag, wenn er im Widerspruch zur Verfassung steht, nachverhandelt und nötigenfalls gekündigt werden muss. Es ist jedoch schlicht weltfremd zu glauben, multilaterale Verträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) könne man nachverhandeln. Das heisst nach Logik der Initiative: Wir müssten sie kündigen.
«Für mich ist die Initiative ganz klar der Versuch, einen Volksentscheid gegen die Menschenrechte zu erwirken.»
Wir laufen zudem Gefahr, dass die Schweiz künftig Bestimmungen der EMRK systematisch nicht mehr anwenden könnte. Der dann drohende Ausschluss aus dem Europarat wäre faktisch auch eine Kündigung. Wir würden als Hüterin der Menschenrechte vollkommen unglaubwürdig und hätten eine verheerende Signalwirkung auf andere Länder. Damit würden wir den europäischen Mindeststandard für Menschenrechte deutlich schwächen. Für mich ist die Initiative ganz klar der Versuch, einen Volksentscheid gegen die Menschenrechte zu erwirken. Wir schwächen damit die Rechte jedes einzelnen von uns allen: Ob Kinder, Senioren, Konsumentinnen, Arbeitnehmende oder Medienschaffende, ob Menschen mit Behinderung oder mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, ob Menschen mit oder ohne religiöse Überzeugungen: wir alle würden verlieren, wenn diese Initiative angenommen würde.