Heute Dienstag berät der Nationalrat einen Vorschlag seiner Rechtskommission für eine verbesserte Verfassungsgerichtsbarkeit. Künftig sollen Bundesgesetze von allen Behörden bei der Anwendung im konkreten Fall auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüft werden können – so wie es heute bereits bei Verordnungen des Bundes und kantonalen Erlassen der Fall ist. Der Vorschlag geht zurück auf eine parlamentarische Initiative, welche der heutige EVP-Präsident Heiner Studer seinerzeit als Nationalrat eingereicht hat (05.445). „Das Parlament beschliesst zuweilen Gesetze, die verfassungsrechtlich nicht hundertprozentig wasserdicht sind. Es muss möglich sein, diese zu überprüfen“, begründet Heiner Studer seinen Vorschlag. Heute geniessen Bundesgesetze eine Sonderstellung und sind im Konfliktfall über die Verfassung zu stellen.
Die Kommission will nicht eine neue Behörde schaffen, welche wie in Deutschland ganze Gesetze annullieren könnte. Anders als heute sollen Richter ein Bundesgesetz aber nur noch dann anwenden, wenn sie darin keinen Widerspruch zur Verfassung erkennen. So wird es bei allen kantonalen Erlassen und Verordnungen seit 1848 praktiziert – und die Behörden haben dieses Recht in der Vergangenheit keineswegs ausgenutzt und reihenweise Bestimmungen ausgehebelt. Aufgrund von Artikel 190 der Bundesverfassung haben Bundesgesetze heute eine Sonderstellung und stehen quasi über der Verfassung. „Das ist doch ein Unsinn“, meint Heiner Studer: „Jedes neu gewählte Ratsmitglied schwört oder gelobt bei seinem Amtsantritt, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und soll nachher als Mitglied des Parlamentes Gesetze beschliessen dürfen, welche gegen ebendiese Verfassung verstossen.“ Der EVP ist es ein Anliegen, dass das nationale Parlament keine Gesetze erlässt, welche im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen. Dies ist jedoch in der Vergangenheit vereinzelt vorgekommen, so beim Stammzellenforschungsgesetz oder auch bei der Unternehmenssteuerreform II durch die Bevorteilung der Grossaktionäre.
EVP-Nationalrätin Maja Ingold, Mitglied der Rechtskommission des Nationalrates, hält den Vorschlag für „wohlüberlegt und vernünftig.“ Er wolle einzig erreichen, dass sich auch das Parlament an die Bundesverfassung halten müsse. Sie sei sich bewusst, dass die Angst vor fremden Richtern gross sei. Mit dem Vorschlag würden aber weder Volksentscheide korrigiert, noch dem Volk irgendetwas weggenommen. Sondern auch das Parlament müsse sich an die Schranken von Rechtsstaat und Verfassung halten.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein altes EVP-Anliegen. Der Zürcher Oberrichter Richard Frank forderte ihre Einführung bereits vor 40 Jahren; EVP-Nationalrat Otto Zwygart nahm das Anliegen erneut auf, nachdem die Normenkontrolle bei der Totalrevision der Bundesverfassung gescheitert war. Wenn Heiner Studers Vorstoss nun zum Ziel führt, kann eine Lücke endlich geschlossen werden. „Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein Instrument, das der Schweiz fehlt“, ist Heiner Studer überzeugt.
Bern, den 6. Dezember 2011/nh