Der eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ist eine historisch gewachsene Institution. Schon im 17. Jahrhundert halfen Bettage bahnbrechend mit, weltanschauliche und politische Gräben zu überbrücken. An diese Tradition will die EVP Schweiz mit ihrer jeweils am Samstag vor dem eidgenössischen Bettag stattfindenden Bettagskonferenz anknüpfen. Die diesjährige Konferenz von heute Samstag mit rund 120 Teilnehmenden im Aarauer Grossratssaal stellte sich der Frage „Wie christlich ist die Schweiz?“.
Jeff Fountain: Wie die Bibel Europa und die Schweiz geprägt hat
Zum Auftakt rief Jeff Fountain, Direktor des «Schuman Centre for European Studies», die Wurzeln der westlichen Welt in Erinnerung. Ob die sieben Tage der Woche, der Sonntag als Ruhetag, das Verständnis, wonach alle Menschen gleich geschaffen seien oder Organisationen wie das Rote Kreuz oder die Anonymen Alkoholiker: all das und noch viel mehr basiere auf christlichen Werten und sei aus ihnen entstanden. Mit dem Auftreten christlicher Missionare in Europa, welche die gute Botschaft des Evangeliums überbrachten, hätten die Völker Europas eine gemeinsame Basis erhalten. Die europäische Geschichte sei nicht zu verstehen, ohne das Christentum und die Bibel zu kennen. Man müsse nicht gläubig sein, um dies zu erkennen. Selbst die EU sei von tiefgläubigen Männern wie Konrad Adenauer und Robert Schumann, mitgestaltet worden mit der Vision, Europa nach dem 2. Weltkrieg als Gemeinschaft von Völkern wieder aufzubauen, die tief in der Bibel verwurzelt sind.
Dr. Philippe Gonzalez: religiöser Pluralismus und seine Auswirkungen in der Schweiz
Anschliessend zeichnete Dr. Philippe Gonzalez, Religionssoziologe an der Universität Lausanne, ein Bild der Religionen in der Schweiz. Das Christentum sei auf dem Rückzug, der Anteil anderer Religionen oder von Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, sei hingegen auf dem Vormarsch. Damit sei die Schweiz bezüglich der Religionen ein pluralistisches Land. Die Schweiz sei zwar nach wie vor ein mehrheitlich christliches Land, was die Zugehörigkeit der Menschen zu einer Kirche anbelange, doch wenn man sich nur die praktizierenden Christen anschaue, müsse man von einer eigentlichen Entchristianisierung sprechen. Historisch habe es viele Konflikte zwischen den Konfessionen gegeben: Religionskriege während der Reformation oder die Unterdrückung beispielsweise der Täuferbewegung. Der moderne Schweizer Staat habe diese Konflikte überwunden, sei säkular und neutral die Religion betreffend. Das Christentum habe unsere Institutionen und Werte mitgestaltet, dürfe sich aber nicht als ihr alleiniger Ursprung betrachten. Eine demokratische Nation wie die Schweiz könne nicht als religiös oder als christlich bezeichnet werden, weil sich jede religiöse Wahrheit im Zug der öffentlichen Debatte in eine religiöse Meinung wandle und sich entsprechend bewähren müsse. Das heisse aber nicht, dass Kirchen oder christliche Parteien sich nicht einbringen könnten in der Gesellschaft, im Gegenteil. Wenn sie ihre Werte und Überzeugungen ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern erklären und die Werte der öffentlichen Debatte standhalten, würden die Werte besser gehört und könnten schliesslich als gemeinsame Werte verinnerlicht werden.
Prof. Dr. Thomas Schlag: Aufgaben und Verständnis der Kirche in der Öffentlichkeit
Nach der Kaffeepause beleuchtete Prof. Dr. Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, die Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit. Eine christliche Kirche, die nicht öffentlich sei, gäbe es nicht und habe es noch nie gegeben. Sie sei damit bewährt und zukunftsfähig. Religion als Privatsache sei deshalb eine fragwürdige Vorstellung. Im Gegenteil müssten gerade auch intolerante, religiöse Strömungen offen ans Licht treten, damit Toleranz als gesellschaftliches Ideal gepflegt werden könne. Die institutionelle Trennung von Staat und Kirche sei richtig verstanden ein tragfähiges Modell. Das heute säkulare Gemeinwesen versuche bewusst und richtigerweise eine unheilige Vermischung zwischen Kirche und Staat zu vermeiden. Andererseits lebe jeder säkulare Staat von Voraussetzungen, die er selbst weder schaffen noch garantieren könne: er beruhe zwar mit gutem historischem Recht auf Religionsneutralität, aber sei ja gerade nicht wertneutral. Kirche habe theologisch gesprochen die Pflicht, zweitens rechtlich gesehen die Möglichkeit und drittens politisch verstanden die Verantwortung, sich öffentlich zu artikulieren. In konkreten Auseinandersetzungen könnten Kirche nicht für die eine oder die andere Seite Partei nehmen, aber beispielsweise „für die Menschenwürde und für einen Umgang in der inhaltlichen Auseinandersetzung, welcher dem sozialen Frieden dient“, wie es der evangelische und der katholische Bischof der jeweiligen Landeskirche in der Auseinandersetzung um das Grossbauprojekt „Stuttgart 21“ erklärt hätten. Dies sei ein Beispiel einer zukünftig notwendigen Partnerschaft. Kurz gesagt: nicht aus, aber mit Religion lasse sich durchaus auch heute Staat machen. Ein spürbar christlicher Geist in allen Dingen sollte in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft kein Ding der Unmöglichkeit sein.
Pfarrerin Claudia Bandixen: Öffentlich-rechtliche Kirchen als Chance unserer Gesellschaft
Im zweitletzten Referat bezeichnete Pfarrerin Claudia Bandixen, Kirchenratspräsidentin der Reformierten Landeskirche Aargau, die typischen Reformierten als nüchtern, zurückhaltend, aber aufgeschlossen gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen wie beispielsweise dem Frauenstimmrecht, welches die kantonalen Landeskirchen sehr früh einführten. Der Beitrag der öffentlich-rechtlichen Kirche in der Gesellschaft bestehe beispielsweise in der Betonung der Toleranz, etwas, was die Kirche in ihrer teilweise leidvollen Geschichte habe lernen müssen. Als Beispiel, wo die Kirche sich engagiere, ohne dass es genügend wahrgenommen werde, erwähnte Bandixen die Sterbebegleitung, wo die Kirche seit vielen Jahren Pionierarbeit leiste, ganz konkret durch Besuchsgruppen und Ausbildungskursen in Spitälern und Kirchengemeinden. Wenn im Grossen Rat Anfragen erfolgen, was der Staat bezüglich Palliative Care unternehme, würden von der Lungen- bis zur Krebsliga zwar alle privaten Initiativen aufgeführt, aber das Engagement der Kirche bleibe unerwähnt.
Nationalrätin Maja Ingold: Folgerungen für die politische Arbeit auf christlicher Grundlage
Abschliessend präsentierte EVP-Nationalrätin Maja Ingold mögliche Folgerungen für die politische Arbeit. Ein Land könne kaum christlich sein, höchstens die Menschen, die darin Leben oder die Gesetze, die es sich gibt, könnten christlich inspiriert sein. Wie christlich ein Land sei, ergebe sich nicht nur aus der Zahl der Menschen, die in eine Kirche gingen, sondern sei auch in der Kriminalstatistik ersichtlich oder an der Zahl der Armen im Land. In der Präambel unserer Verfassung finde sich eine hervorragende Beschreibung einer christlichen Solidargemeinschaft: die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Politik auf christlichen Grundlagen bedürfe immer wieder einer sorgfältigen, persönlichen Abwägung zwischen verschiedenen Gütern. Diese Grundlagen müsse man für sich selber klären. Eine christliche Politik entsage sich dem Effekthaschen nur um des Medieninteressens willen, sondern sei dem sorgfältigen Ringen um gute Lösungen für alle verpflichtet. Das sei alles leichter gesagt als getan. Wer christlich politisieren wolle, sei vor tiefgreifenden Zweifeln nicht gefeit. Am heutigen Samstag vor dem Bettag könnten wir dankbar sein für die vielfältigen Möglichkeiten zur Gestaltung und zum Engagement, welche uns die Schweizer Demokratie und Gesellschaft biete.
Aarau, den 18. September 2010/nh