Ist es ethisch korrekt, dass der Staat das Schweigen seiner Bürgerinnen und Bürger zur Organentnahme nach ihrem Tod stillschweigend als Zustimmung deutet und damit Zugriff auf ihren Körper hat? Die promovierte Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölze warnt vor einem Präzedenzfall für weitere staatliche Übergriffe. Sie sieht das wohl wichtigste Grundrecht der Menschen auf ihre Integrität gefährdet. Mit ihrem Widerstand gegen die Widerspruchslösung lehnt die Besitzerin eines Spenderausweises dabei nicht die Transplantationsmedizin an sich ab. Aber jeder und jede soll selbstbestimmt entscheiden können, ob er Organe freigeben will oder nicht. Denn das Sterben ist, so Baumann-Hölzle, ein Prozess, der mit dem Hirntod nicht abgeschlossen ist.
Frau Baumann-Hölzle, Sie sehen in der Einführung der erweiterten Widerspruchslösung einen Paradigmenwechsel auch im Rechtsverständnis der Schweiz. Was genau würde sich denn so fundamental verändern mit dieser Gesetzesänderung? Sehen Sie weiter reichende Konsequenzen?
Bis anhin können wir davon ausgehen, dass der Staat unsere physische, psychische und soziale Integrität selbstverständlich schützt. Neu muss ich dem Staat gegenüber meine Integrität einfordern und aktiv verteidigen. Damit wird ein Präzedenzfall für weitere staatliche Übergriffe gesetzt wie zum Beispiel bei der Datenhoheit. Im Namen des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls kann der Staat von nun an Integritätsverletzungen vornehmen. Wie will der Staat sicherstellen, dass wirklich alle Menschen die Information verstanden haben, dass sie sich aktiv melden müssen, wenn sie keine Organentnahme wollen, dass sie entscheiden können und müssen und so weiter. Im Zweifel haben nicht mehr die Integrität und die Selbstbestimmung den Vorrang, sondern der Zweck heiligt die Mittel. Menschen dürfen instrumentalisiert werden.
Ist es aus ethischer Sicht korrekt, den fehlenden Widerspruch eines Menschen als dessen stillschweigende Zustimmung zu deuten? Immerhin handelt es sich ja um einen guten Zweck und eine grosse
Mehrheit der Bevölkerung signalisiert in Umfragen doch ihre Bereitschaft zur Organspende?
Schweigen kann viele Gründe haben und bedeutet nicht einfach Zustimmung. Interessant ist, dass zwar in Umfragen 80 Prozent der Bevölkerung für eine Organspende sind, aber nur 16 Prozent dann aktiv einen Spenderausweis besitzen.
Unsere Verfassung verpflichtet den Staat, die körperliche und seelische Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das bleibt doch auch weiterhin gewährleistet oder nicht?
Nein gerade nicht. Denn schon bevor eine Person hirntot ist, wird sie auf der Intensivstation – nachdem man entschieden hat, die Maschinen abzustellen – für eine Organentnahme vorbereitet, wenn sie nicht vorher dagegen widersprochen hat. Nach dem Abstellen der Intensivmassnahmen und nur fünf Minuten nachdem man den Hirntod festgestellt hat, wird mit der Reanimation begonnen, um die Organe frisch zu halten. Damit die Person ganz sicher nicht wieder zum Leben erwacht, werden die Halsschlagadern unterbrochen. Das sind tiefgreifende Eingriffe, die eine explizite Zustimmung verlangen.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Gefahr der Instrumentalisierung des Menschen. Was genau befürchten Sie?
Wenn Organe Menschen ohne explizite Zustimmung entnommen werden, nimmt man in Kauf, dass man Menschen Organen gege